Fast schon versteckt hinter einem Tegut-Lädchen führt ein Seiteneingang ins Innere des Gebäudes, eine Treppe empor, hinein in einem Raum, in dem eine beinahe andächtige Atmosphäre herrscht. Als ich den Innenraum der alten Synagoge in Abterode betrete, springt mir sofort die noch immer erhaltene, kunstvoll mit Davidsternen verzierte Decke der Synagoge ins Auge. In diesen Wänden versammelte sich einst die jüdische Gemeinde in Abterode seit ihrer Errichtung im Jahr 1871, bis sie 1938 im Zuge der Novemberpogrome und des Holocausts gewaltsam ein vorläufiges Ende fand. Nach der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur diente das Gebäude erst als Lagerhalle, dann als Bankfiliale, bis es schließlich in den 1990er Jahren von den Vereinen „Aufwind – Verein für seelische Gesundheit e.V.“ und den „Freundinnen und Freunden jüdischen Lebens im Werra-Meißner-Kreis“ zur Lern- und Gedenkstätte hergerichtet wurde.
Am Freitag, den 26. Mai, hatten wir als Geschichtsleistungskurs der Q2 die Möglichkeit, diesen besonderen Ort zu besuchen und vieles über die Geschichte des jüdischen Lebens in Abterode und die stufenweise Verfolgung durch das Nazi-Regime zu lernen. Als wir auf den Sitzbänken im Innenraum der alten Synagoge Platz genommen hatten, erfuhren wir zunächst etwas über die Ursprünge der jüdischen Gemeinde in Abterode, die Geschichte der Synagoge und über ihre architektonischen Besonderheiten, wie die beiden nachgebildeten Gebotstafeln, die einst über ihrem Eingang thronten. Danach hatten wir die Möglichkeit, auf das Archiv der Lern- und Gedenkstätte zurückzugreifen, um in Kleingruppen eigenständig über die Judenverfolgung im Dritten Reich zu recherchieren. Dabei fokussierten wir uns auf vier Perioden zunehmend einschneidenderer Diskriminierungen und Gewaltverbrechen.
Bei unserer Recherche konnten wir neben alten Zeitungsartikeln und NSDAP-Parteiverordnungen auch auf Zeitzeugenberichte zurückgreifen. Dies ermöglichte es uns, die Unterdrückung und Ermordung der Juden auf eine besonders anschauliche Art und Weise nachzuvollziehen. So erfuhr meine Gruppe durch den Bericht einer im Rahmen der Vorbereitung des Films „Schindlers Liste“ interviewten Frau vom Gefühl der Wert- und Würdelosigkeit, das durch die wiederholten hasserfüllten Zurufe bei Nazi-Aufmärschen einerseits, durch den rapiden Wohlstandsverlust andererseits ausgelöst wurde. Dieser rapide Wohlstandsverlust war eine Folgeerscheinung der ersten Unterdrückungsphase, des Boykotts gegen jüdische Geschäfte. Die NSDAP hatte ihre Anhänger dazu gedrängt, mit sofortiger Wirkung jüdische Geschäfte zu boykottieren; doch der Boykott sollte sich nicht auf die Nationalsozialisten beschränken, sondern vom gesamten Volk getragen werden. Zu diesem Zweck waren den Nazis alle Mittel recht: ob es sich um die Zeitungen handelte, die als Propagandamaschinen missbraucht wurden, oder um vor jüdischen Geschäften stationierte „Wachleute“, die vorbeigehenden potentiellen Kunden zuriefen, dass es sich um ein jüdisches Geschäft handele, und diese gegebenenfalls einschüchterten. Aus einer anderen Quelle erfuhren wir, dass die Reaktion auf den Boykott oft eine positive war; viele Geschäftsleute sahen im Zurückdrängen der jüdischen Konkurrenz eine willkommene Stärkung der eigenen Betriebe. Für jene Bürger, die sich dem Boykott nicht anschließen wollten, wurde damals auf dem Eschweger Marktplatz ein Stacheldrahtzaun errichtet, in dessen Innerem ein Esel eingesperrt wurde. Über diesem „Eschweger Pferch“ wurde ein Banner mit der Aufschrift „Konzentrationslager für widerspenstige Staatsbürger, die beim Juden kaufen“ aufgespannt. Gestützt wurde diese Einschüchterungstaktik durch Zeitungsberichte über die Fertigstellung der ersten Konzentrationslager. Die Botschaft war klar: wer nicht am Boykott teilnahm, lief Gefahr, selbst verfolgt zu werden. Ein dritter Zeitzeuge berichtet davon, nur noch sehr selten in jüdischen Geschäften eingekauft zu haben und, wenn überhaupt, nur über den Hintereingang, wenn zur Zeit niemand in der Nähe war. Weitere Stufen der Verfolgung erreichte die jüdische Bevölkerung Deutschlands 1935 durch die Rassegesetze, durch die den Juden ihre Bürgerrechte abgesprochen und ihnen unter anderem die Ehe mit „Ariern“ untersagt wurden, 1938 durch den gewaltsamen Raub und die Zerstörung jüdischen Eigentums sowie durch körperliche Angriffe und schließlich durch den als Holocaust bekannten systematischen Völkermord. Auch die Synagoge in Abterode selbst wurde Opfer der Verfolgung, als ihre Inneneinrichtung in der „Reichspogromnacht“ 1938 nahezu vollkommen zerstört wurde. In einer sich auf dem Dachboden befindenden Geniza versteckt überlebten jedoch einige jüdische Schriften, darunter eine beinahe unversehrte Torahrolle, die vermutlich zuvor aufgrund einiger Brandlöcher ausgesondert wurde. Daher lassen sich auch heute noch zahlreiche Artefakte jüdischen Lebens in der alten Synagoge begutachten, die nun einerseits als Mahnmal der durch den Nationalsozialismus verursachten Zerstörung, andererseits als Hoffnungsschimmer für das Überdauern selbst der schwersten Repressalien fungieren.
Johannes Furch