Gerlachstraße soll auf den Prüfstand

Neue Forschungsergebnisse werfen kritisches Licht auf die Rolle der einstigen Feuerwehrgröße 

Eschwege. Die Stadt Eschwege steht möglicherweise vor einer neuen Straßennamen-Debatte: Dr. Gernot Gerlach, Enkel des für seine Verdienste um die Freiwillige Feuerwehr mit einem Straßennamen geehrten Gustav Gerlach, schlägt vor, die Gerlachstraße in Weinsteinstraße umzubenennen. Das begründete der in Kassel lebende Dekan im Ruhestand jetzt während eines Vortrags vor Abiturienten am Oberstufengymnasium Eschwege mit einem entsprechenden Plädoyer.

Dieses wirft auf der Grundlage neuer historischer Forschungsergebnisse ein kritisches Licht auf die Rolle seines Großvaters in der Zeit des Nationalsozialismus. Gernot Gerlach rückt vor allem die Mitwirkung des hauptberuflich als Spediteur tätigen Gustav Gerlach an dem im Jahre 1940 im Zuge der Arisierung erfolgten Zwangsverkauf des sogenannten Cäciilienhofes in der Niederhoner Straße in den Mittelpunkt. Das Gelände war im Besitz des jüdischen Unternehmers Louis Weinstein, dessen Familie bis zur Machtübergabe an die Nationalsozialisten im Jahre 1933 eine bedeutende Rolle in der Eschweger Stadtgesellschaft gespielt hatte, fortan durch die neuen Machthaber aber stark in ihren wirtschaftlichen und sozialen Möglichkeiten eingeschränkt wurde.  „Mein Großvater und Louis Weinstein kannten sich von der Feuerwehr, beide waren hier sehr engagiert und übten sogar die gleiche Funktion aus“, so Gernot Gerlach, „doch schon im April 1933 ließ Gustav Gerlach seinen Kameraden in einem voreiligen Gehorsam zum Arierparagraphen einfach fallen.“

Er habe sich fortan als stellvertretender Kreiswehrführer geschickt in dem von Historiker Winfried Speitkamp beschriebenen Geflecht aus Kreis, Kommune und NSDAP bewegt und darin maßgeblichen Einfluss genommen. So sei es ihm gelungen, den Cäcilienhof zu übernehmen, um das mit einem direkten Bahnanschluss versehene Gelände und die dort vorhandenen Gebäude für die von ihm und seinem Bruder Paul geführte Spedition Ph.Gerlach zu nutzen. „Der Zwangskaufvertrag war unter nationalsozialistischen Bedingungen zustande gekommen und mein Großvater hatte durch seine Beziehungen wiederholt dafür gesorgt, dass andere Interessenten nicht zum Zuge kamen“, so Gernot Gerlach. Gustav Gerlachs Freund und NSDAP-Kreiswirtschaftsberater Rudolf Brill habe dem Landrat zudem eine Stellungnahme zum Genehmigungsverfahren des Vertrags zukommen lassen und darin betont, dass eine Ausgleichszahlung nicht in Frage komme, da das Objekt zum Austausch für wehrpolitische Zwecke verwendet werden solle.

Louis Weinstein, der 1939 noch nach England emigrieren konnte, sah aufgrund der perfiden NS-Gesetze, die Gustav Gerlach für sich nutzte, keinen Pfennig für seinen Besitz. So musste der Kauf des Cäcilienhofes in den 1950er Jahren korrigiert und neu vollzogen werden. Heute stehen hier nach dem Verkauf des Geländes und des Abrisses der Gebäude moderne Gewerbebauten. „Die Familien Gerlach und Weinstein verband einst so viel“, so Gernot Gerlach während seines von Lehrerin UIrike Arnold vermittelten Vortrages am Oberstufengymnasium, „davon war nach der Zeit des Nationalsozialismus auch durch das Handeln meines Großvaters nichts mehr übrig“.

Gustav Gerlach, der im Spruchkammerverfahren 1946/47 wie etliche andere nach dem Krieg mit einem Straßennamen geehrten Eschweger Honoratioren, darunter etwa Dr. Alexander Beuermann, Fritz Neuenroth, Kurt Holzapfel oder Dr. Walter Thom, als „Mitläufer“ eingestuft wurde, habe sich an der systematischen Ausgrenzung und Verfolgung der jüdischen Familie Weinstein persönlich beteiligt und bereichert. „Es ist zwar allen Familienmitgliedern gelungen, sich der drohenden Lebensgefahr durch Auswanderung zu entziehen, doch verloren sie alles, was sie in Jahrzehnten mühevoll aufgebaut hatten“, so Gernot Gerlach. Umso bedeutsamer erscheint vor diesem Hintergrund die Tatsache, dass Wolfgang Carl Weinstein, ein Neffe von Louis Weinstein, der 1935 in die USA emigrierte und sich fortan den Nachnamen Wenten gab, von 1976 bis 2008 einen Preis für hervorragende Leistungen im Fach Englisch am Oberstufengymnasium in Eschwege gestiftet hatte. „Damit hat er ein wichtiges Zeichen der Verständigung gesetzt“, so Gernot Gerlach, der die Tradition aufgreifen und den Wenten-Preis nun wieder auflegen will. 

Er fordert die Stadt Eschwege auf, die Kriterien für die Ehrung seines Großvaters zu überprüfen und die Familie Weinstein als neue Namensgeberin für die Gerlachstraße in Betracht zu ziehen. Laut Stadtarchivarin Dr. Annika Spilker, die bei dem Vortrag am Oberstufengymnasium anwesend war, könnte das etwa über die Einrichtung eines Arbeitskreises geschehen, der sich ebenfalls über weitere möglicherweise problematische Straßennamen beraten solle. Auch ein entsprechender Antrag einer Fraktion in der Stadtverordnetenversammlung könnte die politische Diskussion über den Straßennamen, wie etwa bereits bei Nazi-Bürgermeister Beuermann geschehen, ins Rollen bringen. (verfasst von Melanie Salewski)

Foto (v.l.n.r.): Marion Lentz (Schulleiterin), Johannes Furch (Schülervertretung), Dr. Gernot Gerlach, Jean-Luc Meister (Schülervertretung), Mika Bergt, Ulrike Arnold (Fachlehrerin Geschichte)

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OG Eschwege